Midgard: Abenteuer 1880
Das späte viktorianische Zeitalter – auch bekannt als 'Gaslicht-Periode' – ist neben der Zukunft und fantastischen Welten eine der beliebtesten Perioden für das Rollenspiel. Auch wenn sie effektiv die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts abdeckt, wird, wenn eine Jahreszahl genannt wird, meist die 1880 genannt.
In der Gaslicht-Periode erschienen einige 'Klassiker' der Krimi- und Abenteuerliteratur, so u.a. die ersten Sherlock-Holmes-Geschichten, Professor Challenger, die Romane von Jules Verne, Huckleberry Finn, die ersten Werke von Karl May, Multatuli… Kein Wunder also, dass diese Periode die Basis bildet für Periodenbände oder gar komplette Rollenspiele, wie zum Beispiel Cthulhu bei Gaslicht, Private Eye – oder auch Midgard: Abenteuer 1880.
Die neue Ausgabe von Abenteuer 1880 (es gab bereits eine ältere Ausgabe, aus dem Jahr 1994) wird nicht vom Verlag für F&SF-Spiele, sondern in Lizenz von Effing Flying Pig Press herausgegeben. Mit 20,6 x 28,0 cm² ist das Buch minimal größer als DIN D4, eingebunden ist es in einen festen, plastifizierten Kartoneinband. Mit 112 Seiten ist es verglichen mit anderen Regelwerken eher dünn, aber dennoch komplett.
Die Struktur des Buches ähnelt der von anderen Grundregelwerken. Es beginnt, wie üblich, mit einem Vorwort – das aber bereits mehr Informationen liefert als so manches große Einführungskapitel eines anderen Systems. Neben einer Erläuterung, warum man beschlossen hat, für die Spielleitung weibliche, für die Spieler männliche Pronomina zu verwenden (die mich mindestens genausogut überzeugt wie die in anderen Büchern, und die auf mich weniger störend wirkt als das 'streng pro Kapitel abwechseln' gewisser anderer Systeme) findet man hier eine Kurzübersicht über den Kapitelaufbau, ein Vergleich des Systems mit dem Original-Midgard und eine Übersicht über die (minimalen) Änderungen verglichen mit der 1994er Version von Abenteuer 1880.
Ein wenig ungewöhnlich (wenn auch von anderen Büchern desselben Systems wie z.B. dem Perry-Rhodan-Rollenspiel her bekannt) ist es, dass erst eine Übersicht über die Welt und die spielbaren Charaktere ohne Spielwerte zu finden ist. Man kann sich also hier bereits überlegen, was man spielen will, ohne durch Spielwerte beeinflusst zu werden. In diese Weltbeschreibung fließen auch Abenteueraufbau und soziale Gegebenheiten ein, und die Frage, wie man mit der im spätviktorianischen Zeitalter immer noch vorhandenen Benachteiligung der Frau umgehen kann.
Im 2. Kapitel wird dann der Charakter erschaffen. Für Midgard-Kenner: das System ähnelt dem Midgard-System in großem Naße. Man würfelt also für jede Eigenschaft (Stärke, Geschicklichkeit, Gewandtheit, Konstitution, Intelligenz) zwei Prozentwürfel und nimmt den besten, für 'mediales Talent' (das in anderen Inkarnationen auch als 'Psi-Potential‘ bezeichnet wird) einen Prozentwürfel. Sollten sich hierbei zu schlechte Werte ergeben, kann der Spielleiter erlauben, einen neuen Charalkter zu erstellen – wobei der verworfene Charakter als abhängiger NSC (z.B. ein Mündel), für den der SC verantwortlich ist, Dienst tut. Man 'erkauft' sich also sozusagen den 'Reroll' durch einen Nachteil: abhängiger Charakter.
Im weiteren werden dann die übrigen Eckwerte des Charakters bestimmt: Schadensbonus, Aussehen, Bewegung, Willenskraft, Lebenspunkte und so weiter werden wie bei Midgard in Abhängigkeit von den Haupteigenschaften ermittelt. Zusätzlich kann man eine 'besondere angeboene Fähigkeit' erwürfeln – hierbei gibt es eine zehnprozentige Chance, dass etwas schlechtes erwürfelt wird (Kurzsichtigkeit, Hyposmie, oder ähnliches), ansonsten gibt es einen Bonus auf bestimmte Grundfähigkeiten.
Eine Eigenheit des Systems der Maßstab des Ruhms, der als Doppelzahl angemerkt wird: wir berühmt / berüchtigt ist jemand. Hierbei sind zu Spielbeginn Maximalwerte von 13 bzw. 8 möglich, wobei ein 'normales' Maximum für den Normalmenschen von 100 in beiden Bereichen gilt. Steigerung dieser Werte sind Effekte von Abenteuern, aber nicht erlernte Fähigkeiten.
Zuguterletzt (wir befinden uns immer noch im 2. Kapitel) erhält der Charakter neben allgemeinen Hintergrundinformationen noch eine Grundausbildung in Schule und Lehrjahren. Hierbei erhält man Basiskenntnisse inm einigen für den Beruf wichtigen Fertigkeiten – zur Personalisierung kosten diese Fertigkeiten Lernpunkte (idR 5-15 Stück) für die er sich Basiskenntnisse kaufen kann, die je nach Fertigkeit 1 bis 5 Lernpunkte kosten.
Achja, welche Berufe gibt es eigentlich? Insgesamt gibt es 16 Berufe: Agent, Arzt, Archäologe, Athlet, Diplomat, Feldforscher, Entdecker, Glücksritter, Händler, Journalist, Ingenieur, Kirchenmann, Kriminalist, Künstler, Naturforscher und Soldat.
All das findet sich deutlich beschrieben auf nicht mehr als 15 Seiten. Anhand dieser Beschreibung ist es leicht, einen funktionierenden Charakter zu erstellen.
Im 3. Kapitel werden dann Prüfwürfe, Kraftakte, Erfolgs- und Widerstandswürfe erklärt. Prüfwürfe sind Prozentwürfe gegen Eigenschaften, Kratftakte und Geistesblitze Prüfwürfe gegen ein Zehntel von Stärke bzw. Intelligenz. Erfolgswürfe sind Würfe mit einem W20, auf den der Bonus der Fertigkeit addiert wird, gegen 20: eine Summe von 20 ist ein Erfolg. Ein Widerstandswurf ist grundsätzlich wie ein Erfolgswurf abzuhandeln, wird allerdings nur notwendig, wenn die Gegenseite zuerst Erfolg hatte, und sie werden gegen das Eregebnis der Gegenseite gewürfelt. Außerdem wird hier alles zum Thema Kampf und Bewegung gesagt, was ein Abenteuer bedeutsam ist.
Im 4. Kapitel werden die Fertigkeiten näher erläutert. Dieses Kapitel ist mit 31 Seiten eindeutig das größte im Buch, was wohl viele überraschen dürfte, denn in den meisten Rollenspielsystemen ist der eindeutig umfangreichste Teil der Serien der Kampfteil – sogar bei Systemen, die von sich selbst behaupten, Kämpfe eher zu vermeiden. Hier bietet das Regelwerk schon durch den Umfang eine deutliche Einordnung, was wichtig ist und was nicht. Viele der hier zusammengestellten Fertigkeits-Beschreibungen betreffen Sonderfälle, so dass man eine gute Grundlage hat um einzuschätzen, welche Situation was für einen Würfelmodifikator erfordert.
Viele Fertigkeiten haben Mindestwerte für Eigenschaften, unterhalb derer sie nicht erlernt werden können. Für fast jede Fertigkeit gibt es mindestens einen speziellen dieser Werte, auch wenn dieser (z.B. Gewandtheit für Abwehr) einen Mindestwert von 01 hat. Diese spezielle Eigenschaft wird auch als 'Leiteigenschaft' bezeichnet: Extremwerte in dieser Leiteigenschaften geben zum einen beim Erlernen der Eigenschaft im Rahmen der Ausbildung einen Extrabonus, zum anderen verkürzen und/oder vereinfachen sie auch das Lernen bzw. Steigern der Ferrtigkeit.
Die Liste der Fertigkeiten ist nicht komplett identisch mit den Fertigkeiten aus Midgard, was aber auch nicht verwundern darf. Zum einen gibt es natürlich Fertigkeiten, die einem Midgard-Charakter (Fantasy) nichts nützen würden – zum Beispiel Ballonfahren, Fotografieren oder auch Telegrafieren, zum anderen wurden auch einige Fertigkeiten als wenig abenteuerrelevant gestrichen.
Im 5. Kapitel geht es um Ruhm und Reichtum. Ruhm und 'Ruch' zeigen an, wie berühmt bzw. berüchtigt ein Charakter ist – wobei ein hoher Wert in einem der beiden nicht unbedingt auch einen hohen Wert im anderen bedingt, aber auch nicht verhindert. Wichtig ist allerdings, dass – worauf ausdrücklich hingewiesen wird – diese Werte darstellen, was 'Otto Müller, der Durchschnittsbürger' von einem Charakter hält, und das kann in manchen Punkten deutlich von unseren Denkweisen abweichen – Sozialdemokraten werden ebenso schief angesehen wie Nihilisten oder Anarchisten oder auch Frauenrechtler...
Berühmtheit und Berüchtigtheit können sich natürlich im Laufe der Zeit verändern. Proben hierauf und auch Steigerungen laufen ähnlich ab wie beispielsweise bei Cthulhu: mit Prozentwürfeln. Für Steigerungen wird auf den Wert gewürfelt, und wenn man ihn überwürfelt, erhält man einen meist größeren Bonus, wenn nicht, einen kleineren (zum Beispiel 2W6 resp. 2 Punkte). Auch kann eine Ruhmsteigerung eine Verminderung der Berüchtigtheit verursachen und umgekehrt, so lange der jeweils beeinflusste Wert höher ist als der beeinflussende (weil sich sowieso verändernde) Wert.
Was Geld und Geldmittel angeht, wird ein vereinfachendes Ressourcensystem verwendet: In Stufen von A bis L werden Klassen und Besitztümer eingeteilt, und zeigen an, welchen Lebensstandard sich jemand leisten kann. Diese Klasse kann sich mit relativ geringen Prozentchancen verändern, auch können besonders ergiebige Abenteuer oder besonders verschwenderisches Leben die Klasse verändern. Immerhin braucht man hier nicht, wie in vielen anderen Systemen kleinteilig (andere sagen 'hartwurstig‘) jede Einzelheit durchzurechnen, was dem Flair der Zeit und der beeinflussenden Romane ziemlich nahe kommt.
Im 6. Kapitel geht es dann um Erfahrung und das Steigern der Fertigkeiten. Diese Regeln sind nahezu identisch mit denen des 'klassischen' Midgard.
Abgeschlossen wird das Regelwerk dann mit 'zusätzlichen Regeln‘, in denen Sonderfälle zusammengefasst sind wir besonders junge oder besonders alte Helden, gezielte Schüsse, wilde Tiere (ein Bestiarium), Krankheiten und Gifte, psychische Belastbarkeit, Sprengstoffe – und Zauberei. Die Welt von Midgard 1880 kennt magische Geheimgesellschaften, Zauberei und ähnliches, auch wenn Zauberei den Nichtspielercharakteren vorbehalten bleibt. Ein moderneres Beispiel, wie man sich das vorstellen kann, wären die Geschichten um Bob Morane oder die um Modesty Blaise. Auch hier sind die Helden selber nicht besonders begabt, begegnen aber immer wieder NSC, die in magischer oder technischer Hinsicht wahre Zauberer sind. Von der umgebenden Welt einmal abgesehen (Bob Morane: früher kalter Krieg, Modesty Blaise: kalter Krieg bis junge Vergangenheit) entsprechen beide Serien dem Bild, das das Regelwerk als Option anbietet – und mehr als eine Option ist es auch nicht. Wer will, kann auch rein mundäne Abenteuer wie Sherlock-Holmes– und Professor-Challenger-Geschichten spielen.
Abgeschlossen wird das Buch durch ein Abbildungs- und ein Stichwortverzeichnis sowie eine Kopiervorlage für einen Charakterbogen. Leider ist die Heftung des Buches nicht hundertprozentig: nach dem ersten Durchlesen stellte ich bereits fest, dass die Klebeheftung des Bandes an einer Stelle im Auflösen begriffen war.
Die Illustrationen entsprechen dem Thema und der Zeit – es handelt sich als in erster Linie um zeitgenössische Fotos. Auch wenn ich beim allerersten Durchblättern dachte, es seien arg wenig Illustrationen vorhanden, muss ich das nach dem Durchlesen zurücknehmen: der Text ist nicht eine Bleiwüste, sondern wird angenehm strukturiert und durch Bilder unterbrochen, die auch die Stimmung der Zeit gut einfangen.
Für Leute, die sich einmal in der Gaslicht-Ära umtun wollen aber weder den nachdrücklichen Steampunk eines Castle Falkenstein, noch den Horror eines Cthulhu Gaslicht suchen, aber andererseits auch der nüchternen Ratio eines Private Eye abgeneigt sind, könnte Midgard 1880 eine interessante Alternative darstellen – und für Midgard-Spieler sowieso, da das System dem ihnen bekannten doch sehr weit ähnelt.
Hersteller |
Effing Flying Green Pig Press unter Lizenz des Verlags für F&SF-Spiele |
Autoren |
Heinrich Glumpler, Jürgen E. Franke, Rainer nagel, Michael Haberer, Sven Scheurer, Steffen Schütte |
Spieler |
RPG |
Denken |
RPG |
Glück |
RPG |
Geschicklichkeit |
RPG |
Preis |
€ 14,95 (Buchpreisbindung) |
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