Shadows of Esteren – Book 1: Universe
Man kann das Rad nicht neu erfinden. Von daher ist es immer wieder eine Frage, die sich stellt, wenn jemand ein neues Rollenspielsystem herausbringt: Wodurch ist das eben besser bzw. anders als das, was schon da war?
Nun, versuchen wir mal diese Frage für Shadows of Esteren zu beantworten. Das ganze heißt im Original übrigens Les Ombres d’Esteren und kommt aus Frankreich. Und wenn man es sich anschaut, bekommt man zwei erste Eindrücke:
- Es wird viel mehr Wert auf einen stimmigen detaillierten Hintergrund gelegt als auf ein stumpfes Regelwerk;
- Die Autoren haben gewissermaßen Cherry Picking betrieben, sowohl was die Welt als auch das Spielsystem angeht.
Gerade letzteres ist definitiv kein Vorwurf, sondern nur eine Feststellung. Schließlich haben sich viele Rollenspieler schon gedacht "das Feature aus diesem Spielsystem gefällt mir, dafür wäre mir aber jenes aus einem anderen lieber“ – aber das dann mal zusammengebaut haben wenige.
Zuerst einmal zur Welt – Esteren beschreibt sich selbst als "mittelalterliche Fantasy mit Gothic/Horror Einflüssen“. Nun, was soll man sich darunter vorstellen? Beim Thema Fantasy Horror denken viele vielleicht in Rahmen wie Ravenloft, aber das passt nicht. In Bezug auf das Horrorelement wird oft auf Lovecraft und seine Mitstreiter verwiesen, aber ist das nun Fantasy Cthulhu? Nein, ebenfalls nicht, wenn die Charaktere auch wahnsinnig werden können, allerdings auf eine andere Weise als bei Cthulhu, eher vergleichbar mit der Mechanik, die manche vielleicht aus Unknown Armies kennen, denn Erlebnisse können entweder traumatisch sein, oder abhärten/abstumpfen.
Die Welt an sich hat viele Elemente aus dem keltischen Kultur- und Mythoskreis aufzubieten. Der bespielte Teil nennt sich Tri-Kazel, und dies ist politisch-kulturell in drei einigermaßen ähnlich große Teile unterteilt: Taol-Kaer, Gwidre und Reizh. In Taol-Kaer lebt man noch nach den alten Traditionen der Demorthèn – altes überliefertes Wissen um die Kraft der Natur, die auch entsprechend respektiert wird (erinnert stark an Druidentum); in Gwidre ist der Großteil der Bevölkerung Anhänger des Glaubens an den einen Gott (wo da wohl die Vorlage ist…), und in Reizh sind vor allem durch kontinetale Einflüsse die Ideen der „Magience“ populär geworden (schwer einzugrenzen, wirkt aber wie eine Kreuzung aus Alchimie, Steamtech und fantasylastige Technozauberei); das hindert allerdings Charaktere aus allen drei Regionen nicht, zusammenzuarbeiten, allein schon, weil es wichtigere Probleme gibt als solche philosophische Differenzen.
Ach ja, Probleme… die Welt ist ein wenig düster, denn es gibt Feondas. Was die genau sind, ist sehr variabel, allerdings sind sie definitiv feindlich gegenüber Menschen, und gefährlich. Sie können tierische, pflanzliche, humanoide oder sogar Mischformen haben – viel mehr wird über diese Wesen allerdings (noch) nicht bekannt. Sicher ist, dass sie wider die Natur sind, und die Leute sind sich zumindest soweit einig, dass dies ein Feind ist, der bekämpft werden muss (Feond ist in der alten Sprache des Landes schlicht das Wort für Feind bzw. Gegner).
Was für Charaktere baut man sich in so einer Welt? Nun, erst einmal baut man sich hier menschliche Charaktere, wenn sie auch von verschiedener menschlicher Rasse sein können – neben den Tri-Kazelianern, die sowas wie den allgemeinen Mischling darstellen, gibt es die Osag – reinblütige Ureinwohner, die oft ein wenig abseits von größerer Zivilisation leben, die Tarish – ein Nomadenvolk, das per Schiff aus dem Westen kam, und ein wenig wie eine Mischung aus slawischem fahrenden Volk mit Juden erinnert, was ihre Kultur und auch Erscheinung angeht, und die Kontinentalen – im Hinblick zu den anderen Rassen hochgewachsene, schlanke, etwas verweichlichte und vor allem verstädterte Menschen. Zu der Rasse gehört dann ein Beruf, oder zumindest eine Ausrichtung, wovon es 18 vorgeschlagene gibt (sowie die Optionalregel, weitere zu entwerfen oder auch Kombinationen zuzulassen). Ist das Konzept erst einmal klar, werden den fünf Wegen Combativeness, Creativity, Empathy, Reason und Conviction zugewiesen – entweder jeder Wert von 1 bis 5 je einmal, oder insgesamt 15 Punkte nach Wunsch, solange zumindest eine 5 oder 1 dabei ist – irgendeine herausragend gute oder schlechte Eigenschaft sollte einen Charakter schon ausmachen. Fähigkeiten, hier sehr breitgefächert als Domänen zusammengefasst, ergeben sich schon durch Beruf und Herkunft, einige weitere können gewählt werden, und haben Werte die auf einem der fünf Wege aufbauen; überschreitet eine Domäne den Wert 5, muss hier eine Disziplin gewählt werden, weil man sich innerhalb der Domäne weiter spezialisiert – Beispiel Domäne Handwerk, Spezialisierung Schmieden, Töpfern, Holzbearbeitung usw.
Das Regelsystem würfelt sehr wenig und ist einfach gehalten – der jeweilige Domänenwert (ggf Disziplin) und der jeweilige Weg werden zusammengezählt, dazu kommt noch ein W10, und das Ganze muss dann eine vom Spielleiter bestimmte Schwierigkeit erreichen. Ist diese niedrig genug, dass es sowieso klappt, wird erst gar nicht gewürfelt, was ein schön flüssiges, erzählfreundliches und atmosphärisches Spiel ermöglicht. Ebensowenig muss gewürfelt werden, wenn das Ziel ohnehin unerreichbar ist – es sei denn, man möchte etwas riskieren (kritische Erfolge gibt es ja schließlich auch, aber auch nicht auf beliebiger Höhe). Insgesamt lässt sich das System gut für sowohl atmosphärisches als auch cinematisches Spiel nutzen, ist jedoch sicher nichts für Regelfetischisten, die jeden kleinen Rotz nachrechnen müssen (die sind sowieso in anderen Spielen besser aufgehoben). Daß der Regelteil gegenüber dem enormen Hintergrundteil wirklich klein ausfällt, sollte schon einen Eindruck vermitteln, worum es bei Shadows of Esteren vornehmlich geht – um atmosphärisches Rollenspiel und Charakterentwicklung und -interaktion, nicht darum, pausenlos buntes Plastik durch die Gegend zu werfen.
Wichtiges Detail: Es ist noch lange nicht alles zur Welt gesagt. Es gibt im Prinzip keine bis kaum Werte für irgendwelche Antagonisten, da hat der Spielleiter derzeit noch sehr, sehr freie hand. Was es gibt sind sechs recht gut gemachte Charakterarchetypen, mit denen man vom Fleck weg losspielen kann, oder die auch gut als Beispiele dienen können, wie ein Charakter aussehen könnte. Und was weiteres Material angeht – das gibt es, unter anderem mittlerweile sogar dank eines Kickstarters gratis zum Download das „Buch 0“, mit drei Szenarioideen, einem Schnelleinstieg und 6 weiteren Charakterarchetypen. Und mehr wird kommen… bleibt zu hoffen, dass dieses vielversprechende System auch hierzulande Bekanntheit gewinnt und gespielt wird. Mir gefällt das, was ich bisher lese sehr gut, und das will bei mir verwöhntem Urgestein von Rollenspieler schon was heißen. Zudem ist auch die Artwork wirklich schön, und 292 Vollfarbseiten in gutem Layout muss man auch erst einmal hinbekommen, hier ist das gelungen. Also, nicht davon abschrecken lassen dass das hier erst einmal „nur“ die Welt ist, das Spiel wird weitergehen…
Hersteller | Agate RPG, englische Version von Studio 2 |
Autoren | Nelyhann, Fréderic Hubleuer |
Künstler | Yvan Villeneuve, Olivier Sanfilippo u.a. |
Spieler | Rollenspiel |
Denken | Rollenspiel |
Glück | Rollenspiel |
Geschicklichkeit | Rollenspiel |
Preis ca | 49,99 US-$ (Buch), 18,30 € (PDF) |
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