Wir sind das Volk!
Pünktlich zum 25jährigen Jubiläum der sog. Friedlichen Revolution veröffentlichte der Verlag Histogame ein Spiel zur Geschichte des geteilten Deutschlands, von der Bodenreform 1945-1948 und der Gründung der FDJ 1946 bis hin zu Montagsdemonstrationen, Wahlbetrug und Mauerfall 1989. Diese Zeit ist ja inzwischen schon so lange her, dass manch ein Erwachsener sich schon nicht mehr daran erinnern kann.
Histogame ist ja eher bekannt für seine historischen CoSims wie zum Beispiel das von uns besprochene Friedrich. Insofern war es schon ein wenig überraschend, ein Spiel zu neueren Geschichte zu sehen.
In der Schachtel steckte folgendes Material:
- ein Spielplan
- 84 Karten
- 35 Holzsteine 'Lebensstandard‘
- 50 Holzwürfel 'Unruhe‘
- 12 Holzwürfel 'Sozialisten‘
- 70 Marker Infrastruktur
- 39 Fabrikmarker
- 12 Marker für marode Fabriken
- ein Marker 'Fabrik Rheinsberg‘
- 10 Marker Massenprotest
- je ein Marker für Prestige, Devisen, Sozialisten, Republikflucht, Dekadenende
- das Regelheft
Das Regelheft kann man bei Histogame downloaden, und kommt in Englisch und Deutsch. Das Heft ist ziemlich dick, was nicht nur daran liegt, dass hier auch eine ausführliche Stellungnahme der Autoren zur Geschichte und zur Entwicklung des Spiels zu finden ist. Ebenfalls sind die Karten zweisprachig gehalten. Auf der Boardgamegeek-Seite zum Spiel findet man noch zusätzliches Material, aber auch einige interessante Diskussionen zur Strategie des Spiels.
Die Marker sitzen in Stanzbögen, aus denen sie sich gut lösen assen. Die Holzteile haben gute Qualität – allen in allem wirkt das Spiel dennoch eher wie ein klassisches CoSim, was das Material angeht.
Die Karten haben ordentliche Qualität und zeigen jeweils ein Ereignis aus der deutschen Geschichte ab '45, wie zum Beispiel das Trasnsitabkommen, den Bau des Palastes der Republik oder auch die Pleite der Herstatt-Bank. Außerdem haben sie einen Zahlenwert und einige Symbole, die Spielauswirkungen beschreiben wie Veränderungen des Prestiges, der Devisensituation etc.
Das Spielbrett zeigt die beiden Teile Deutschlands, mit ein paar Anpassungen, die vor allem der Übersichtlichkeit und dem Spielmechanismus geschuldet sind. So wurde beispielsweise das Saarland zu Rheinland-Pfalz 'eingemeindet'. Auf der Karte sieht man wichtige Städte / Industriestandorte und die Verbindungswege zwischen diesen. Außerdem gibt es mehrere Leisten, auf denen der aktuelle Stand von Prestige, Republikflucht, Devisen und Sozialisten angezeigt werden kann.
Im Spiel spielt einer der beiden Spieler die DDR, der andere die Bundesrepublik, über die ca. 45 Jahre zwischen dem 2. Weltkrieg und der Wiedervereinigung. Eingeteilt wird das Spiel in vier 'Dekaden' (wobei die erste 'Dekade' von 1945 bis 1959 geht), nach jeder Dekade erfolgt eine Zwischenphase, in der unter anderem die Siegbedingungen überprüft werden.
Zu Spielbeginn ist in allen Gebieten der Karte ordentlich Unruhe, außerdem werden je zwei Fabriken aufgesetzt (Hamburg, Dortmund / Bitterfeld, Ostberlin) und die Statusmarker auf bestimmte Positionen der Leisten gelegt.
In jeder Dekade werden die Karten dieser Dekade gespielt: von den jeweils 21 Karten der Dekade wird die Sonderkarte (Russische Panzer, Mauerbau, Honecker entmachtet Ulbricht und Mauerfall / Krisenregierung am runden Tisch) ausgelegt, sowie von den anderen Karten der Dekade sieben Stück. Jeder Spieler hat zu Dekadenbeginn zwei Handkarten, entweder Karten, die aus der letzten Dekade übrig geblieben sind oder zwei neue Karten aus den übrigen Dekadenkarten – man darf auch alte Karten abwerfen, um Karten der neuen Dekade zu erhalten.
Abwechselnd – beginnend mit der Seite, die den Prestigevorteil hat – darf jetzt jeder Spieler immer eine Karte ausspielen, entweder eine der offen ausliegenden Karten oder eine der Handkarten. Mit dieser Karte kann er dann eine von vier Aktionen ausführen.
Man kann mit einer Karte einen Unruhewürfel entfernen, oder seine Wirtschaft ausbauen, oder Lebensstandard erzeugen oder das Ereignis der Karte auslösen. (Die Sonderkarte der Dekade darf für alle diese Zwecke aber nur von der DDR genutzt werden.) Warum aber sollte man sich für die eine oder andere dieser Optionen entscheiden?
Unruhe ist immer ungünstig: wenn man in einem Gebiet vier Unruhewürfel hat, werden diese durch einen Massenprotestmarker ersetzt. Diese tragen für die DDR den sinnigen Spruch "Wir – sind – das – Volk – !!!“ (5 Marker, je ein Wort pro Marker), für die Bundesrepublik den ebenso bekannten Spruch "Keine – Macht – für – niemand – !!!“. Wenn ein Staat am Dekadenende vier oder mehr dieser Marker auf dem Brett liegen hat, bricht er zusammen und verliert. Es ist also sinnvoll, Unruhe zu entfernen, wenn möglich, denn sie kann sich auch über Ereignisse und andere Effekte vergrößern. Außerdem darf man in Gebieten mit Massenprotest keine Wirtschaft bauen – und auch keine Infrastruktur, die mit Wirtschaftsorten in diesem Gebiet verbindet.
Wirtschaft aufbauen kann man, indem man den Punktewert der Karte aufbaut – eine Fabrik bzw. einen Infrastrukturmarker pro Punkt der Karte. Wenn hierdurch Fabriken miteinander verbunden werden, unterstützen sie sich gegenseitig und erhöhen ihre Produktivität, was auf Dauer zu einem erhöhten Lebensstandard führen sollte.
Lebensstandard kann man auch aufbauen, und zwar mit einer Karte bis zu drei Lebensstandard-Marker in verschiedenen Gebieten. Hierfür muss die Wirtschaftskraft der Industrie in dem Gebiet ausreichend sein (und entsprechend höher für höhere Lebensstandards). Man kann ggf. fehlende Industriekraft auch über die Punkte der Karte liefern, aber jeder Punkt kann nur einmal verwendet werden und in einem einzelnen Gebiet dürfen nicht mehr als zwei Punkte einer Karte (wenn diese beispielweise 4 Punkte wert sein sollte) verwendet werden. Jeder Lebensstandard-Marker entfernt außerdem automatisch einen Unruhewürfel falls vorhanden bzw. wandelt einen Massenprotest wieder in vier Unruhewürfel, um einen hiervon zu entfernen.
Das Ereignis der Karte schließlich kann alles mögliche bewirken: Devisenveränderungen beispielsweise durch Aufnahme der DDR in den RGW, Landflucht, Entfernen oder Platzieren von Unruhemarkern etc. Hierbei kann es sein, dass ein Ereignis in der Bundesrepublik vom DDR-Spieler ausgelöst wird (z.B. die Errichtung des Saarprotektorats, die die Bundesrepublik Industrie und Prestige kostet und zu Unruhe in der Bundesrepublik führt) oder umgekehrt (die Unruhen vom 17. Juni – Unruhe in der DDR und Verlust von Sozialisten).
Wer welches Ereignis auslösen darf, steht auf der Karte – man darf aber auch eine Karte für eine der ersten drei Zwecke nutzen, die man nicht selbst auslösen darf.
Wenn alle 'normalen' Karten aus der Auslage genommen worden sind, endet die Halbdekade, und es werden noch einmal sieben Karten ausgelegt.
Sobald die zweite Halbdekade endet, weil wieder alle normalen Karten aus der Auslage genommen sind (es ist also möglich, dass die Spezialkarte gar nicht verwendet wurde), geht es in die Auswertungen.
Es wird geschaut, wie viele Leute Republikflucht betreiben – wenn nicht die Mauer gebaut wurde. Der Mauerbau führt aber automatisch zu Prestigegewinn für die Bundesrepublik und zu Wirtschaftsverlust für die DDR. Wenn die Mauer nicht steht, werden abhängig von den gespielten Karten, vom Lebensstandard in den Gebieten, Massenprotesten und staatlicher Gewalt Bürger fliehen, was ebenfalls zu Industrieschwund in der DDR führen kann, aber keinen Prestigeverlust nach sich zieht.
Anschließend erlebt die DDR abhängig vom aktuellen Prestigestand entweder Industrieverlust, marode Fabriken, Unruhen oder eine Kombination hiervon – bei gutem Prestige können sogar Unruheminderungen oder Industrieaufbau stattfinden. Abhängig von der Devisensituation werden weitere Fabriken marode oder gar abgebaut. Ebenfalls kostet der Einsatz von Staatsgewat Industrieproduktion.
Nachdem diese für die DDR meist recht unerquicklichen Phasen abgehandelt sind, muss der Lebensstandard in allen Gebieten erhalten werden – die jeweils stärkste Fabrik des Gebiets muss so viele Punkte wert sein wie Lebensstandard-Marker unterstützt werden sollen. Ansonsten schwindet der Lebensstandard wieder. Nun entstehen Unruhen in den nicht ganz so gut mit Lebensstandard bedachten Gebieten, und dann können die Gebiete über die innerdeutsche Grenze hinweg mit ihrem Lebensstandard andere Beeinflussen und Unruhe verursachen – die Bevölkerung sieht "da drüben geht es den Leuten besser…“. Staatsgewalt und Sozialisten können jetzt eventuell noch Unruhe in der DDR vermindern, allerdings können auch Sozialisten wieder verloren gehen. Nun wird geschaut, ob eine Seite gewinnt.
Wenn die DDR mehr als 12 oder weniger als 0 Sozialisten auf dem Brett haben müsste, endet das Spiel – in ersten Fall mit dem Sieg, im zweiten mit der Niederlage der DDR. Wenn ein Land jetzt 4 oder mehr Massenprotestmarker auf dem Spielfeld hat, bricht das Land zusammen und die Gegenseite hat gewonnen. Wenn beide Bedingungen nicht eingetroffen sind, beginnt die nächste Dekade – wenn nach allen vier Dekaden kein Sieger feststeht, hat die DDR gewonnen.
Es gibt noch eine Reihe weiterer Sonderregeln zu Berlin, Hamburg, benachbartem Ausland etc., aber das genügt, um einen ersten Überblick zu erhalten.
Intreressant noch anzumerken, dass Prestige, Devisen etc. nicht auf einem 'absoluten' Balken verändert werden, sondern dass die Felder des Balkens immer relativ zum Nachbarland zu sehen sind: wenn das Prestige weiter zur bundesdeutschen Seite geht, kann das daran liegen, dass die Bundesrepublik Prestige gewonnen hat, es ist aber auc möglich, dass die DDR welches verloren hat, während das Ansehen der Bundesrepublik in der Weltöffentlichkeit sich nicht ändert – und unmgekehrt.
Wie man aus der Beschreibung unschwer entnehmen kann, ist es nicht gerade einfach, alle Optionen im Auge zu behalten und sich für die jeweils beste zu entscheiden – auch, weil der Gegner einem natürlich immer einen Strich durch die Rechnung machen kann. Auch spielt sich das Spiel vom Gefühl her eher wie ein CoSim denn wie eine Wirtschafts- oder Politiksimulation, was einen Spieler, der etwas anderes erwartet, sicher überraschen dürfte.
Die Zielgruppe sind sicher Vielspieler mit einem Faible für das komplexe Spiel, so lange man nicht gerade unter Analyseparalyse leidet – dieser Zustand kann das Spiel extrem zäh machen. Auch werden so einige Effekte und geschichtliche Entwicklungen durch das Spiel besser verständlich – und auch die Entscheidung, die Mauer zu bauen, wird verständlich. Man kann als DDR allerdings auch ohne Mauerbau auskommen – die Kosten durch den Prestigeverlust sind schließlich auch recht kräftig, und man muss sich gut überlegen, ob man mit den Verlusten durch Republikflucht oder durch Industrie- und Prestigeminderungen durch die "Kosten der Mauer“ besser fährt.
Wer als Bundesdeutscher allerdings an das Spiel herangeht nach dem Motto "Die Geschichte hat ja gezeigt, dass die DDR nicht lebensfähig ist“, wird sich wundern. Die Bundesrepublik kann, wenn sie nicht aufpasst, sogar durch eigene innere Unruhen auseinandergerissen werden, und es ist gar nicht so leicht, die DDR in den vier Dekaden so weit zu bringen, dass sie vor dem Spielende die Waffen strecken muss. Es scheint sogar eher so, dass die DDR einen leichten Vorteil hat – aber man kann auch als DDR nicht versuchen, alles einfach auszusitzen.
Leider ist das Spiel nur für 2 Spieler, was bedeutet, dass es in unserer Testrunde eher selten auf den Tisch kommen wird. Es weiß nämlich gut zu gefallen, und gibt für die ältere Spielergeneration sicher auch hin und wieder Grund zu Reminiszenzen – an beispielsweise Guillaume-Affäre, Biermann-Ausbürgerung oder Ölkrise kann ich mich auch noch erinnern…
Hersteller | Histogame | |
Autor | Peer Silvester, Richard Sivél | |
Künstler | Richard Shako, viele Grafiken beruhen auf Originalgrafiken unter CC-Lizenzen | |
Spieler | 2 | |
Denken | 9 | |
Glück | 5 | |
Geschicklichkeit | 0 | |
Preis ca. | 27,90 € |
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