Taiwanische Europolitik

European Union

European UnionEuropapolitik ist für viele ein Buch mit sieben Siegeln. Das bezieht sich nicht nur auf die Themen und Parteiprogramme, sondern auch darauf, wie Entscheidungen getroffen werden. Nicht nur sind die Kompetenzen zwischen den direkt gewählten Mitgliedern des Europäischen Parlamentes und den durch die Regierungen abgeordneten Mitgliedern des Europäischen Rates für Laien schwer zu differenzieren – sogar politische Journalisten geraten manchmal in Verwirrung zwischen dem Europäischen Rat und dem Europarat, der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes etc.

Da kommt es für manchen vielleicht wie eine Überraschung, dass ausgerechnet aus Taiwan ein Brettspiel kommt, das diese Politik thematisiert. Zwar klingt der Titel European Union – The Boardgame eher wie ein Aufbau- oder Wirtschaftsspiel; im Spiel geht es aber um harte Politik. Jeder Spieler übernimmt die Rolle einer Partei und versucht, durch Verhandlungen und Kompromisse möglichst Gesetzesvorlagen zu realisieren, die dem eigenen Parteiprogramm entsprechen, um so Einfluss zu gewinnen. Die Überraschung wird vielleicht geringer, wenn man sieht, dass der Initiator der Europäische Auswärtige Dienst ist, in diesem Fall das European Economic and Trade Office in Taiwan.

An Stelle der Parteiblöcke, die in der Realität agieren (Sozialdemokratischer Block, Grüner Block, Christlich-konservativer Block etc.) gibt es in diesem Spiel allerdings 'farbige' Parteien, die zwar dem realen Vorbild nachempfunden sind, aber dennoch eine hohe Abstraktion aufweisen.

In der Dose findet sich:

  • die Spielregel auf Chinesisch und Englisch
  • ein Spielbrett
  • 7 Parteikarten
  • 7 Sichtschirme
  • ein Rundenmarker
  • ein Phasenmarker
  • eine Präsidentenkarte
  • 7 Abstimmungskarten
  • 7 Parteimarker
  • 28 Mitgliedsstaatskarten
  • 50 Gesetzesvorschläge (Karten)
  • 124 Einflusspunkt-Marker (74 × 1, 20 × 5, 20 × 10, 10 × 50)
  • 5 Richtlinienmarker
  • 15 Endspiel-Szenariokarten
  • 12 MEP-Karten
  • 14 Mehrheitskarten

Die Marker stecken in zwei Stanzbögen, aus denen sie sich gut herauslösen lassen – mit Ausnahme der Richtlinienmarker, denn das sind kleine Holzwürfel. Die Karten haben brauchbare Qualität, sind allerdings beim Auspacken erst einmal bunt gemischt.

Das Spielbrett ist zweiseitig bedruckt, der einzige Unterschied zwischen den beiden Seiten ist aber, dass auf einer die Bezeichnungen zusätzlich(!) auf Chinesisch abgedruckt sind.

Die Parteikarten sind mit Zahlen markiert, je nachdem, wie viele Spieler teilnehmen. Die ‚"Parteien" sind farbig gezeichnet, es gibt die Blauen, Gelben und Violetten im Drei-Personen-Spiel, bei mehr Spielern kommen in dieser Reihenfolge noch hinzu: die Grünen, die Blaugrünen, die Roten und die Weißen (Grauen). Jede dieser Parteien erhält Einflusspunkte für andere Politikbereiche und muss daher versuchen, die Gesetzesvorlagen dieser Seite durchzusetzen und andere zu blockieren.

Zu Spielbeginn erhält jeder Spieler zufällig eine der verfügbaren Parteien zugeteilt, insgesamt 10 Einflusspunkte, die Karte und den Sichtschirm der Partei. Erster Europäischer Präsident ist der Eigentümer des Spiels.

Bei bis zu 5 Spielern gibt es in jeder der drei Spielrunden zwei Phasen, bei sechs und sieben Spielern drei. Die zusätzliche Phase wird in die Mitte eingeschoben.

In der ersten Phase tritt der Europäische Rat zusammen. Hierfür wird eine Anzahl Mitgliedsstaatskarten ausgelegt. Die Anzahl steigt in jeder Runde.

Anschließend bietet jeder Spieler auf das Recht, sich eine Karte aus der Auslage zu nehmen. Das Bieten erfolgt in einer verdeckten Auktion mit Einflusspunkten – nicht verwendete und Reservepunkte versteckt man hinter dem Sichtschirm. In Reihenfolge des Gebotes darf jetzt jeder Spieler eine Karte nehmen, und dann wieder beim Meistbietenden beginnend noch eine etc. Es ist gut möglich, dass hierbei einzelne Spieler (die weniger geboten hatten) eine Karte weniger erhalten. Die gebotenen Chips werden in den allgemeinen Vorrat gelegt. Bei gleichen Geboten entscheidet der aktuelle Präsident, wer zuerst wählen darf.

Wenn alle Mitgliedsstaaten zugeteilt sind, wird der Spieler, der die meisten Einflusspunkte bot, neuer Präsident. Auch hier entscheidet bei Gleichheit der alte Präsident.

Jede Partei erhält Stimmmacht abhängig von den erhaltenen Ländern. Außerdem geben ein paar Länder, die wenig Stimmmacht haben, zusätzliche Einflusspunkte.

Der (neue) Präsident zieht jetzt von den gemischten Gesetzesvorschlägen sieben, die er offenlegt. Anschließend wählt er aus diesen fünf aus, die zur Abstimmung kommen – die beiden übrigen werden abgeworfen.

Die Vorschläge werden einzeln abgehandelt, jeder Spieler stimmt entweder für oder gegen den Gesetzesvorschlag. Hierbei dürfen die Spieler miteinander verhandeln und sich gegenseitig Angebote machen, wobei laut Spielregel explizit auch Absprachen außerhalb des Spieltisches (Wenn du für mich stimmst, gebe ich ein Abendessen aus…) möglich sind. Am Ende der Verhandlungen (drei Minuten maximal) wird abgestimmt, und jede Partei hart so viele Stimmen wie Stimmmacht.

Es gibt Gesetzesvorschläge, die einstimmig angenommen werden müssen (Eonführung des Euro, Atomwaffenfreies Europa…) und – deutlich mehr – Vorschläge, die eine "qualifizierte Mehrheit" benötigen. Wie viele Ja-Stimmen für eine qualifizierte Mehrheit notwendig sind, steht jeweils auf der Karte.

Gesetze, die abgelehnt wurden, werden abgeworfen.

Mit den restlichen Gesetzen geht es im Spiel mit 6 und 7 Spielern in die zweite Phase – ins Europäische Parlament. Bei 3-5 Spielern geht es direkt in Phase drei weiter.

Im Parlament werden so viele MEP-Karten zufällig gewählt wie Spieler teilnehmen. Auch auf diese wird geheim geboten, Gleichstände werden wie gehabt vom Präsidenten entschieden. In Reihenfolge der Gebote wählt jeder Spieler eine der MEP-Karten. Und ja, wenn die MEP-Karten verteilt sind, geht die Präsidentenrolle an den Spieler weiter, der den meisten Einfluss geboten hat…

Anschließend wird über alle Vorschläge in der gleichen Reihenfolge abgestimmt, wobei jetzt jede Partei so viele Stimmen hat, wie auf ihrer MEP-Karte steht. Allerdings ist für jeden Vorschlag jetzt eine einfache Mehrheit ausreichend, für die wiederum nach einer dreiminütigen Verhandlungsrunde abgestimmt wird.

In der letzten Phase – die auf jeden Fall abgehandelt wird, egal wie viele Mitspieler dabei sind – erhält jetzt jeder Spieler Einflussmarker, abhängig von den Gesetzesvorhaben, die Erfolg hatten. Jeder Gesetzesentwurf hat in fünf verschiedenen Bereichen einen Punktwert, und jede Partei hat in diesen Bereichen ebenfalls einen Punktwert (jeweils von 0 bis 2). Das Produkt aus Partei-Punktwert und Gesetzentwurf-Punktwert bestimmt, wie viele Einflusspunkte die Partie erhält – hierbei kann eine Partei in mehreren Bereichen für einen Gesetzesentwurf Einfluss gewinnen.

Außerdem gewinnen und verlieren die Parteien noch zusätzliche Einflusspunkte, je nach Parteiprogramm – beispielsweise verliert die grünblaue Partei einen Einflusspunkt für jedes Europa-Gesetz, das angenommen wird, gewinnt aber einen für jedes Gesetz (mit Ausnahme finanzieller Gesetze), das abgelehnt wird.

Schließlich können einzelne Gesetze noch die allgemeine politische Stimmung in bestimmten Bereichen verbessern – das steht dann jeweils auf der Karte. In den fünf Bereichen, die auch den Parteien wichtig sind, entwickelt sich die öffentliche Meinung weiter.

Nach drei Runden endet das Spiel. Jetzt erhält jede Partei noch zusätzliche Einflusspunkte, die davon abhängen, wie die allgemeine politische Stimmung bei Spielende ist. Hierbei kann eine Partei daran interessiert sein, dass die Entwicklung nicht weit fortgeschritten ist – die Hellblauen beispielsweise erhalten weniger Punkte, wenn die europäische Integration fortschreitet. In manchen Bereichen ist aber eine möglichst weite Entwicklung von Vorteil für eine Partei – die Grünen beispielsweise gewinnen mehr Punkte, wenn das Umweltbewusstsein steigt.

Wer nach diesem Endbonus die meisten Einflusspunkte hat, gewinnt. Im Sinne politischer Parteien in einem Mehrparteiensystem können bei Gleichstand auch mehrere Parteien gewinnen.

Auch wenn die Illustrationen der Parteiführer darauf deuten, ist European Union keine Satire. Es ist vielmehr ein knallhartes Mehrheiten-Verhandlungsspiel; das politische Thema ist mehr oder weniger übergestülpt. Es ist aber auch kein lehrreiches Spiel, das die Regeln und Prozesse um die Gesetzgebung in der EU nahebringt – hier werden alle Gesetze vor dem Rat und ggf. dem Parlament verhandelt. In der Realität gibt es ja immer wieder Kompetenzstreitigkeiten, wer denn jetzt was entscheiden darf, und dass beide über etwas einig sein müssen, ist sehr selten.

Und dennoch ist das Spiel in anderer Hinsicht zumindest gefühlt eine gute Darstellung der EU-Gesetzgebung. Das Machtgerangel, das "Stimmst Du für X, stimme ich für Y", die manchmal paradox wirkenden Parteientscheidungen – all das findet man in diesem Spiel wieder. A propos Paradox: Die Weißen, eine eigentlich antieuropäische Partei, deren eigenes Ziel eigentlich nur ein möglichst freier Markt ist (bei allem anderen gibt es mehr punkte, wenn sie nicht entwickelt werden) gewinnen zwar Einfluss, wenn europäische Einigungsgesetze durchfallen, aber sie stehlen (!) sogar Einfluss von den anderen Parteien, wenn in einer Runde mindestens drei Vorschläge durchkommen.

Als Spieler muss man immer sehen, mit welchen Vorschlägen man sich selbst am meisten hilft, und wem man noch ein wenig hilft, um mit diesen zusammen eventuell ein Gesetzesvorhaben durchzuboxen. Aber auch wenn ein Gesetzesvorhaben einem Mitspieler gar keinen Einfluss bringt, kann man ihm vielleicht eine Zustimmung abringen, wenn man ihm dafür bei einem anderen Vorhaben unterstützt, bei dem man selber nicht so viel gewinnt wie er. Da man ja sieht, welche Vorschläge noch kommen, hat man hier vielleicht ganz brauchbare Verhandlungsgrundlagen.

Dies zeigt aber auch, wie wichtig die Rolle des jeweiligen Präsidenten ist. Nicht nur, dass man beim Versteigern Gleichstände so auflösen kann, dass der weniger gefährliche Mitspieler einen Vorteil hat, ist die Rolle bei den neuen Gesetzesvorhaben noch größer: Man kann zwei Vorschläge gleich komplett abschießen, und die anderen in eine Reihenfolge bringen, in der Verhandlungen wahrscheinlich zu bestimmten Ergebnissen führen. Wer psychologisch vorgeht, wird so kleinere Einfluss-Einnahmen erzielen können, rein indem man die Reihenfolge der Gesetzesvorschläge entsprechend anpasst.

Das Spiel ist in erster Linie für Vielspieler geeignet; Gelegenheits- und Familienspielern dürfte es zu komplex sein. Auch wenn die Reihenfolge der Gesetzesvorhaben zufällig ist (wodurch die Klimaziele 2030 beschlossen werden können, bevor die für 2020 auf dem Programm stehen – und danach erst die Montanunion gegründet werden soll…), ist das Endergebnis ziemlich unabhängig vom Glück. Die Spieldauer wird mit 45-90 Minuten angegeben; wenn man wirklich in der Diskussionszeit bleibt, dürfte das auch gelingen, vor allem, da spätere Gesetze einer Legislaturperiode meist weniger Zeit benötigen als die ersten, wil man da bereits seine Absprachen getroffen hat. Analyseparalytiker werden mit dem Spiel aber nicht glücklich werden, denn diese werden bei den Verhandlungen eher Nachteile haben.

Meine Testrunde hat sich schon gemeldet, dass sie das Spiel auf jeden Fall wieder spielen will, wenn wir durch unseren derzeitigen Rezensionsberg durch sind. Vorgemerkt ist es auf jeden Fall. Der Wiederspielwert ist schon nicht nur wegen der Gesetzesvorschläge – von den 50 Vorschlägen werden nur 21 in einer Partie verwendet und nur 15 kommen zur Abstimmung – hoch.

Das Spiel dürfte nicht leicht zu finden sein. Ich habe nachgefragt, wo man es ggf. erhalten kann.

Hersteller Big Fun Games für den Europäischen Auswärtigen Dienst
Autor Alex Tseng
Künstler Joe Fu
Spieler 3-7
Denken 9
Glück 2
Geschicklichkeit 0
Preis ca. 39 € (?)

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